Herausforderungen

Herr Zeeb, die traditionelle Rolle der Börsen besteht darin, die Kapitalbeschaffung auf den Primär- und die Preisfindung auf den Sekundärmärkten zu ermöglichen sowie die Transparenz und Standardisierung zu fördern. Wie lässt sich dies im ESG-Kontext nutzen?

Im Rahmen ihrer Kernfunktionen können Börsen einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen leisten, mit denen unsere ganze Branche konfrontiert ist. Heute gibt es eine Fülle von ESG-Ratings und Datenanbietern mit sehr unterschiedlichen Ansätzen. Die Ergebnisse sind im besten Fall verwirrend, im schlimmsten Fall irreführend und werden oft als «Greenwashing» bezeichnet.

SIX – als eine führende europäische Betreiberin von Finanzmarktinfrastruktur – und ihre Börsen in der Schweiz und in Spanien, die beide Mitglieder der UN Sustainable Stock Exchange Initiative sind, spielen neben den Regulatoren und anderen Marktteilnehmern eine wichtige Rolle bei der grenzüberschreitenden Harmonisierung und Standardisierung von ESG-Ratings und -Berichterstattung.

Ralf Rühling

Indem wir mehr Klarheit und Transparenz schaffen, reduzieren wir die Komplexität und machen die Märkte effizienter.

Thomas Zeeb, Global Head Exchanges bei SIX

Indem wir mehr Klarheit und Transparenz schaffen, reduzieren wir die Komplexität und machen die Märkte effizienter. So ermöglichen wir, dass aussagekräftigere Informationen zu ESG-Aspekten von Unternehmen mit weniger Aufwand erstellt und von Anlegern einfacher bezogen werden können, als dies heute der Fall ist.

Beschleunigung des Wandels

Diese Harmonisierung wird Zeit brauchen. Haben Sie konkrete Beispiele, wie Sie den Wandel bereits beschleunigt haben?

Wir bieten ESG-Indizes an – der erste, der SXI Switzerland Sustainability 25 Index® Total Return, wurde bereits 2014 in Partnerschaft mit Sustainalytics lanciert –, die als Basiswerte für entsprechende Anlageprodukte dienen, sowie Flags und Filteroptionen, um die an unseren Börsen gelisteten Produkte zu identifizieren. Indem wir nachhaltigen Anleihen oder ETFs sichtbarer machen, ermöglichen wir den Anlegern, fundierte Anlageentscheide zu treffen und Kapitalströme in diese Produkte zu lenken.

ESG wird zunehmend als attraktiver Renditefaktor verstanden.

Wir haben zuletzt einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der Anleger beobachtet. Viele Jahre wurde ESG in erster Linie als eine zusätzliche Möglichkeit zur Risikominimierung gesehen; inzwischen ist ESG zu einem fast zwingenden Risikominderungsfaktor geworden und wird darüber hinaus zunehmend als attraktiver Renditefaktor verstanden. Die Förderung von allgemeinem Finanzwissen – für die sich SIX einsetzt – kann ebenfalls dazu beitragen, mehr Kapital in nachhaltige Anlagen zu lenken.

Wie unterstützen Sie Ihre Emittenten angesichts dieser wachsenden Investorennachfrage?

Was die kotierten Unternehmen betrifft, so sehen wir unsere Rolle als Börse darin, ihnen Hilfestellung bei der Erfüllung der sich ständig weiterentwickelnden ESG-Vorschriften zu geben, was eine grosse Herausforderung darstellt. Wir machen die Regeln nicht – aber wir unterstützen unsere Emittenten proaktiv dabei, die Vorschriften einhalten zu können. So bieten wir beispielsweise immer mehr ESG-Schulungen und -Workshops an und erweitern das ESG-Informationsangebot in unserem Investor Relations-Handbuch. Dazu gehört, wie Unternehmen die Informationsbedürfnisse von institutionellen und privaten Anlegern am besten erfüllen können, wie sie die Offenlegungsanforderungen in verschiedenen Jurisdiktionen angehen, wie sie mit der Offenlegung von Nachhaltigkeitsfaktoren beginnen können und viele andere Themen.

Emittenten an SIX Swiss Exchange können sich zudem freiwillig für die Erstellung eines Nachhaltigkeitsberichts nach einem international anerkannten Standard entscheiden, den wir dann auf unserer Website veröffentlichen. Nur wenn diese beiden Dinge zusammenkommen – Unternehmen, die sich an die Vorschriften halten, und Börsen wie wir, die für Visibilität sorgen –, wird die Transparenz für Investoren aussagekräftiger und nützlicher.

Könnten Sie nicht noch «proaktiver» sein und den Wandel beschleunigen, indem Sie strengere Anforderungen an Unternehmen und Produkte stellen, die an Ihren Börsen kotiert und gehandelt werden?

Das ist eine interessante Frage. Zwar könnten wir durchaus strenge Kotierungsregeln für unsere Börsen einführen. Aber das geht an der Sache vorbei: Die Verantwortung liegt bei uns allen: den Infrastrukturanbietern, Emittenten, Anlegern, Regulatoren und politischen Entscheidungsträgern. Wir müssen eng zusammenzuarbeiten, um einen kohärenten Ansatz zu fördern, mit dem wir Umwelt-, Sozial- und Governance-Fragen angehen. Ohne unsere Rolle im Herzen der Wirtschaft – das heisst, die Gewährleistung einer effizienten und zuverlässigen Kapitalbeschaffung und -allokation – schmälern zu wollen, sind wir nur ein Teil dieser Gleichung. Wir sind dazu da, den Dialog und den Fortschritt zu erleichtern, und nicht, um Türen für Emittenten oder politische Entscheidungsträger zu schliessen.

Wir sehen uns als Vermittler, der Emittenten und Anleger mit passenden ESG-Profilen zusammenbringt.

Aus denselben Gründen werden wir auch nicht eine Anlageklasse gegenüber einer anderen bevorzugen. Wir sehen uns als Vermittler, der Emittenten und Anleger mit passenden ESG-Profilen zusammenbringt und es ermöglicht, Kapitalströme frei in eine nachhaltigere Wirtschaft und Gesellschaft zu lenken. Wir müssen also ganzheitlich denken, um das gesamte globale Investment-Ökosystem und alle seine Akteure zu mobilisieren.

Die Rolle der Innovation

Blicken wir in die Zukunft: Welche Rolle kann Innovation spielen, um soziale und ökologische Aspekte zu verbessern?

Aus Sicht der Börse haben wir unsere Innovationsfähigkeit mit der Lancierung von SIX Digital Exchange unter Beweis gestellt. SDX wurde mit der Distributed-Ledger-Technologie gebaut – und wir glauben, dass DLT auch im ESG-Kontext eine wichtige Rolle spielen könnte, indem sie für mehr Transparenz und klarere Verantwortlichkeiten für Investoren und Unternehmen sorgt. Sobald die Branche die zuvor erwähnten allgemeinen Herausforderungen in Angriff genommen hat, könnte die DLT beispielsweise Compliance-Aktivitäten wie die Überprüfung der Berichterstattung und der Nachhaltigkeitsaussagen von Unternehmen unterstützen. Wir freuen uns darauf, dieses Potenzial gemeinsam mit allen Beteiligten zu erforschen. 

Wir glauben, dass DLT auch im ESG-Kontext eine wichtige Rolle spielen könnte.

Ein weiterer Bereich, in dem Börsen eine entscheidende Rolle spielen können, sind (Voluntary) Carbon Markets, das heisst (freiwillige) Kohlenstoffmärkte. Um die Debatte voranzutreiben, wie FMI-Anbieter zur Bekämpfung des Klimawandels und der Erderwärmung beitragen können, hat SIX Swiss Exchange ein White Paper veröffentlicht, das gemeinsam mit Studenten der Università della Svizzera Italiana (USI) in Lugano sowie Mitgliedern ihres Center for Climate Finance and Sustainability (CCFS) erarbeitet wurde.

Die Zukunft von Kohlenstoffmärkten

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse?

Die Bepreisung von Kohlenstoff ist ein wichtiges wirtschaftliches Instrument im Kampf gegen den Klimawandel, aber die bestehenden Märkte weisen verschiedene Probleme auf, wie z. B. eine starke Fragmentierung und sehr geringe Standardisierung. Ausserdem werden die meisten Transaktionen noch ausserbörslich abgewickelt, mit dementsprechend geringer Transparenz und Liquidität. Für die Bewältigung solcher Herausforderungen ist eine regulierte Börse geradezu prädestiniert, sei es im traditionellen oder im digitalen Bereich.

Welche konkreten Schritte könnten Sie unternehmen, um die Kohlenstoffmärkte effizienter zu machen?

Innovation ist der Schlüssel, und zwar in jeder Hinsicht. Es braucht neue Produkte wie Kohlenstoffanleihen, kohlenstoffbesicherte Wertpapiere und auf Kohlenstoffausgleich basierende Derivate, die eine effiziente Dekarbonisierung ermöglichen – und wir müssen die Plattformen bereitstellen, auf denen die Kräfte von Angebot und Nachfrage in einem regulierten Raum wirken können. Mit den Möglichkeiten zur Tokenisierung, die SDX bietet, könnten wir potenziell völlig neue Möglichkeiten für Emittenten schaffen.

Herr Zeeb, vielen Dank für dieses Interview.