Welche Auswirkungen der Corona-Krise spürt die Schweizer Börse im Listing-Bereich?
Christian Reuss (CR): Die hohe Volatilität und die rückläufigen Vermögensbewertungen der letzten Wochen haben ein äusserst herausforderndes Umfeld für die Kapitalaufnahme geschaffen. Darum ist die Emissionstätigkeit in diesen Tagen überschaubar. Bei der Emission von Anlageprodukten wie Strukturierten Produkten und ETFs sieht es hingegen deutlich besser aus: Seit dem 16. März bereichert Credit Suisse wieder unseren ETF-Markt und hat bereits 5 neue ETFs kotiert, während im gesamten März insgesamt 21 neue ETFs an der Börse kotiert wurden. Am aktivsten sind die Emittenten von Strukturierten Produkten, insbesondere von Hebelprodukten. Hier haben wir im März die Rekordanzahl von insgesamt über 10‘000 neu kotierten Produkten gesehen, da die Emittenten ihre Portfolios ständig auf neue Marktniveaus angepasst haben.
Wie hat sich die Handelsaktivität in dieser Zeit entwickelt?
CR: Die Corona-Krise war für die Finanzmärkte ein massiver, exogener Schock. Die Volatilität ist enorm angestiegen. Eine implizite Volatilität von 16% p.a. bedeutet, dass sich eine Aktie pro Handelstag um 1% bewegt; Mitte März stieg die vom VSMI gemessene Volatilität auf über 70% – ein Vielfaches des Durchschnitts der vergangenen Jahre. Der Anstieg der Volatilität spiegelt die hohe Unsicherheit wider, die die Aktienmärkte traf und zu massiven Rückgängen in der Bewertung der Vermögenswerte führte. Dies ging mit vergleichsweise extrem hohen Handelsvolumina einher – und im Gegensatz zum «Jordan-Tag» im Januar 2015, an dem die Schweizerische Nationalbank die Bindung des Schweizer Frankens an den Euro aufhob, nicht nur an einem einzelnen Tag, sondern über mehrere Handelstage hinweg (siehe Grafik).
Hohe Volatilität und Handelsumsätze an der Schweizer Börse
Welchen Einfluss hatte das auf die Geld-Brief Spannen?
Ein solches Marktumfeld führt in der Regel dazu, dass die Geld-Brief Spannen oder auch Spreads auseinander gehen und Liquidität zu einer Seite des Orderbuchs hin tendiert. An der Schweizer Börse haben sich die Spreads zwar auch vergrössert, jedoch verhältnismässig deutlich weniger als bei unseren Peers, den anderen führenden europäischen Börsen. Wir haben also relativ gut abgeschnitten.
Auf dem Höhepunkt der Turbulenzen stellte sich die Frage, ob man die Börsen schliessen solle. Was ist Ihre Ansicht?
CR: Eine Schliessung der Börsen würde die zugrunde liegende Ursache der Unsicherheit und die daraus resultierende Volatilität an den Märkten nicht beseitigen. Im Gegenteil, bei einer Schliessung gäbe es keine Transparenz mehr, wie sich Vermögensbewertungen ändern. Dies würde die bereits bestehende Unsicherheit potenziell eher weiter erhöhen. Die philippinische Börse in Manila – um ein aktuelles Beispiel zu nennen – wurde für zwei Tage geschlossen und nach der Wiedereröffnung fielen die Aktienkurse um 30%. Um die Frage zu beantworten: Funktionierende Kapitalmärkte spielen eine entscheidende Rolle bei der Sicherung der globalen wirtschaftlichen Stabilität. Darum ist es essenziell, die Börsen offen zu halten.
Wie würde sich eine erzwungene Schliessung der Börsen auf Anleger auswirken?
CR: Sie verlören zu einem gewissen Grad den Zugriff auf ihre Investments und das Geld, das dahinter steht. Eine Schliessung würde sie auch daran hindern, ihre Meinung über den Wert von Aktien und Anleihen angesichts der aktuellen Marktbedingungen zu aktualisieren und entsprechend zu reagieren – dies gilt sowohl für fallende als auch für steigende Märkte.
Haben sich durch die Krise alle Handelsvolumina hin zum für alle ersichtlichen Auftragsbuch verlagert, oder gab es weiterhin noch Handel in nicht angezeigten, sogenannten non-displayed, Handelsbüchern?
CR: Unser eigener, nicht einsehbarer Liquiditätspool für Schweizer Aktien, SwissAtMid, hat sich ausserordentlich gut entwickelt und den Marktteilnehmern erheblichen Mehrwert geboten. In der Regel priorisieren Händler in Zeiten hoher Volatilität eher die Sicherheit der Ausführung als die Erzielung von Preisverbesserungen. Dank unserer einzigartigen Sweep-Funktionalität ermöglicht SwissAtMid beides gleichzeitig. Seit dem 16. März hatten wir an 11 von 15 Handelstagen mehr als CHF 1 Milliarde Umsatz, wobei die Marktteilnehmer während dieser extrem volatilen Tage gleichzeitig Preisverbesserungen von über CHF 8 Millionen erzielten.
Wird sich die aktuelle Krise auf die Äquivalenzdiskussion zwischen der Schweiz und der EU auswirken?
CR: Ich glaube, das hat sie schon. Die für den 17. Mai geplante Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit wurde verschoben und ein neuer Termin steht noch nicht fest. Diese Abstimmung ist entscheidend für die Verhandlung eines Rahmenabkommens mit der EU – und die politisch bedingte Nicht-Äquivalenz der Schweizer Börse ist unfreiwillig damit verknüpft. Allerdings konzentriert sich die Liquidität in Krisenzeiten ohnehin meist auf den Heimatmarkt – so hätten wir im vergangenen Monat höchstwahrscheinlich selbst mit der Äquivalenz Rekordvolumina an unserer Börse gesehen.
Wie ist die Schweizer Börse aus operativer Sicht mit der höheren Handelsaktivität umgegangen?
Werner Bürki (WB): Wir sind auf solche Marktbedingungen vorbereitet und verfügen über die notwendigen Instrumente zur Unterstützung und zum Schutz von Marktteilnehmern und Investoren. Unser Regelwerk erlaubt Handelsunterbrechungen auf der Ebene einzelner Wertpapiere. Das gibt den Händlern die Möglichkeit, eine Verschnaufpause einzulegen und die Situation neu zu beurteilen, ohne gleichzeitig in den Gesamtmarkt einzugreifen. Darüber hinaus stellt das Team unserer Marktüberwachung sicher, dass Transaktionen nur zu marktkonformen Preisen stattfinden – oder es deklariert einen Mistrade.
Wie wichtig ist Technologie, um einen stabilen Betrieb der Börse sicherzustellen?
WB: Technologie ist absolut entscheidend für die Bewältigung volatiler Märkte wie dieser. Handelsbedingungen, wie wir sie im März gesehen haben, sind der Grund dafür, dass unsere Systeme nicht auf Durchschnittswerte bei der Belastung kalibriert sind, sondern auf Spitzenwerte. Infolgedessen hat unsere Systemkapazität die enormen Volumina und die Geschwindigkeit des Handels in dieser volatilen Periode sehr gut bewältigt.
Ihre Systeme sind also nicht an ihre Grenzen gestossen?
Die Auslastung lag im niedrigen zweistelligen Bereich der Kapazität unserer Systeme und wir hatten bisher keine Ausfälle oder anderweitige Probleme im Betrieb. Wir dürfen also zurecht sagen, dass wir nicht nur eine der technologisch fortschrittlichsten, sondern auch eine der stabilsten Börsen der Welt betreiben. Aber die Swiss Value Chain geht über die Zulassung und den Handel an der Schweizer Börse hinaus: Auch unsere Nachhandelssysteme mussten beispiellose Volumina bewältigen.
Sehr geehrter Herr Bürki, sehr geehrter Herr Reuss: Herzlichen Dank für diese spannenden Einblicke! Und wir sind gespannt auf das nächste Interview, das sich eingehender mit dem Post-Trading-Bereich befasst: Adaptieren, transformieren, entwickeln: Was Post-Trade-Dienstleistungen Anfang 2020 ausmacht.
Hohe Handelsvolumen
Im März 2020 verzeichnete die Schweizer Börse mehrere neue Rekorde. Der Handelsumsatz stieg im Vergleich zum Vormonat um +80,9% auf CHF 293,0 Mrd. und die Anzahl Abschlüsse um +127,7% auf 17‘399‘685 – beides monatliche Allzeit-Höchststände, wobei die bisherigen Rekorde aus dem Januar 2015 und Februar 2020 um 61,3% respektive 127.7% übertroffen wurden. Am 12. März wurden, mit 1‘335‘892, die meisten Abschlüsse getätigt – +40,6% mehr als am bisherigen Rekordtag, dem 15. Januar 2015, als die Schweizerische Nationalbank die Bindung des Schweizerfrankens an den Euro aufhob.
Detaillierte Statistiken finden Sie in unseren Handelskennzahlen.