Produktivitätswachstum dank technologischem Fortschritt. Neue wirtschaftswissenschaftliche Modelle. Geglättete Konjunkturzyklen durch Notenbanken. Was sich mit den Stichworten Digitalisierung, Modern Monetary Theory oder Tiefzinspolitik wie eine Blaupause für die Zeit nach Corona liest, beschreibt in Tat und Wahrheit die 1920er-Jahre. Die Menschen und die Wirtschaft litten damals unter den verheerenden Auswirkungen des Ersten Weltkriegs. Zusätzlich forderte die Spanische Grippe einen Blutzoll von je nach Schätzung bis zu 50 Millionen Menschen. Zu Beginn der 1920er-Jahre begannen sich die Volkswirtschaften der USA und Westeuropas aber langsam zu erholen. Roaring Twenties wurde diese kurze Zeit der Prosperität in den USA genannt, «années folles» in Frankreich und Goldene Zwanziger Jahre in Deutschland. In den Metropolen im Westen feierten die Menschen wieder ausgelassen. Die Industrie produzierte dank Fliessbandfertigung auf breiter Front für die Massen. Das reale Pro-Kopf-Einkommen in den USA stieg in den 1920ern um jährlich über 4%. Leveraging bei Börsengeschäften befeuerte einen bis dahin beispiellosen Aktienboom, der jedoch im Oktober 1929 jäh endete. Die Party war vorbei. Der Kater dauerte 25 Jahre. Erst 1954 erreichte der Dow Jones Industrial Average wieder seinen Höchststand vor dem Crash.
Mittelstand als Verlierer
Wiederholt sich die Geschichte? Nicht unbedingt: So ist beispielsweise im Westen der Sozialstaat heute weit besser ausgestattet. Dies hat sich in der Covid-19-Krise als segensreich erwiesen. Somit dürften sich trotz hoher Staatsschulden bereits mögliche negative Auswirkungen abfedern lassen. Ausserdem haben die Notenbanker die Lektion von 1929 gelernt und schon in der Finanzkrise 2008/09 angewendet: Sie haben die Zinsen gesenkt respektive tief gehalten und nicht wie 1929 im unglücklichsten Moment erhöht. Schliesslich ist der wichtige Finanzsektor heute stärker reguliert und die Bankbilanzen deutlich resilienter als nach dem Ersten Weltkrieg. Und doch gibt es Parallelen oder in den Worten von Mark Twain: «Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich immer wieder.»
Welcher Reim ist es nun? Für mich ganz klar die grösser werdenden Ungleichgewichte. Zu nennen sind an prominenter Stelle die zunehmenden Ungleichgewichte in der Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb der westlichen Industriestaaten und im Vergleich zu Entwicklungsländern. Die anhaltenden Negativzinsen führen wegen der finanziellen Repression zu einer stetigen Erosion des Mittelstands, dem Rückgrat jeder Gesellschaft. Eine vergleichbare Situation zeigte sich auch im Verlauf der Roaring Twenties, die nur für eine Minderheit wirklich «roaring» waren. Es gab nämlich auch damals viel mehr Verlierer als Gewinner. Heute kreiert die digitalisierte Wirtschaft zwar viele spannende Arbeitsplätze, die aber von den neugeschaffenen, schlecht bezahlten Jobs beispielsweise in der Logistik des Onlinehandels in den Schatten gestellt werden. Eine neue Unterschicht – diesmal im Dienstleistungssektor und nicht am Fliessband – könnte entstehen. Ferner steht die Zusammensetzung der globalen Wertschöpfungsketten immer mehr in der Kritik. Ein möglicher Deglobalisierungsprozess würde die weltweiten wirtschaftlichen Unterschiede noch vergrössern. Und schliesslich ist fraglich, ob die «Generation Corona», also junge Menschen, die sich momentan in Ausbildung befinden, gute Karten auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft haben werden.
1920er Jahre: ein Blick 100 Jahre zurück
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Sozialverträgliche Dekarbonisierung der Wirtschaft
Wie kann nun verhindert werden, dass der bevorstehende Boom nicht wieder in einem Bust endet? Entscheidend wird sein, wie wir mit den beschriebenen Ungleichheiten umgehen. Die erwartete Konjunkturerholung sollte durch echte Produktivitätsfortschritte getrieben werden und nicht durch eine verstetigte Schuldenwirtschaft. Die Wirtschaft muss möglichst rasch vom Tropf des Staats befreit werden. Strukturwandel soll ermöglicht, die negativen Auswirkungen aber abgefedert werden. Die Roaring Twenties waren der Beginn des Erdölzeitalters. Die 2020er läuten dessen Ende ein. Dieser beispiellose Transformationsprozess ist mit einer Operation am offenen Herzen vergleichbar. Dieser Prozesssoll zielstrebig und ambitioniert, aber unbedingt sozialverträglich angegangen werden. Schliesslich führt kein Weg an einem Deleveraging der Notenbankbilanzen und der Staatshaushalte vorbei. Auch hier gilt, dass dies geplant über einen längeren Zeitraum erfolgen muss.
Eine Rückschau auf die Zeit vor 100 Jahren bietet keinen sicheren Masterplan für zukünftigen Erfolg. Aber wer meint, dass ökonomische Gesetzmässigkeiten in der Post-Corona-Zeit plötzlich nicht mehr gelten sollen oder sich die Natur des Menschen ändert, sitzt einem verhängnisvollen Irrtum auf.
Über die Autorin Andrea Weidemann
Andrea Weidemann leitet seit Dezember 2016 das Schweizer Finanzmuseum, das erste und einzige Finanzmuseums im Bankenland Schweiz. Ihr Hauptfokus liegt dabei sowohl auf der Konzeption neuer Ausstellungen, der Erarbeitung von Inhalten zur Promotion von finanzieller Bildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, wie auch auf der Erschliessung neuer, digitaler Kanäle zur Besuchergewinnung. Vor ihrer Tätigkeit als Museumsleiterin war Andrea knapp zehn Jahre in der Finanzbranche tätig, zuletzt als Head of Marketing and Public Relations beim Indexanbieter STOXX Ltd. Sie hat Geisteswissenschaften und Politik an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt und an der Sacramento State University of California studiert, und einen MBA in International Communications von der Quadriga Universität, Berlin.