In den 1920er-Jahren wurde die Steckdose breit eingeführt und fast alles ging schief. Die amerikanische Lösung hätte sich durchsetzen sollen, doch sie galt als wackelig und unsicher. In Kürze entwickelten sich 15 internationale Standards, die trotz intensiver Bemühungen nicht vereinheitlicht werden konnten. Dies jetzt nachzuholen ist beinahe unmöglich: Dazu müsste die bestehende Infrastruktur ausgetauscht werden, das heisst alle Steckdosen und Stecker.
Vor einer ähnlichen Situation steht die Finanzbranche: Open Banking, also der vom Kunden initiierte, standardisierte und gesicherte Austausch von Kundendaten zwischen Banken und anerkannten Drittanbietern, den sogenannten Third Party Providers (TPPs), hält derzeit weltweit Einzug. Die «Financial Times» nennt Open Banking gar die «stille digitale Revolution». Doch wie bei den Steckdosen schiessen verschiede Standards und Lösungen ins Kraut: In der EU schreibt eine Richtlinie namens Payment Services Directive (PSD2) zwar vor, welche Daten Finanzinstitute teilen müssen, aber nicht, wie der Austausch erfolgen soll. In Asien gibt es einen Wildwuchs von Schnittstellen. In den USA entwickelten die Banken individuelle Lösungen mit ihren Partnern. Und Grossbritannien hat zusätzlich zur dort geltenden PSD2 auch noch ein eigenes Gesetz zu Open Banking erlassen.
Wortschatz
API steht für eine Programmierschnittstelle (Application Programming Interface). APIs erlauben es den TPPs, Kontodaten von Bankkunden und Funktionen der Banken im Zusammenhang mit diesen Konten zu nutzen.
PSD2 steht für die zweite EU-Zahlungsdiensterichtlinie (Payment Services Directive, PSD), die seit Januar 2018 in Kraft ist. Sie sieht unter anderem die Marktöffnung für TPPs im Zahlungsverkehr vor. Bis Mitte September 2019 mussten die Banken die entsprechenden Massnahmen umgesetzt haben.
TPP steht für Drittanbieter (Third Party Provider). Mit TPPs sind in der Regel Nichtbanken gemeint, denen der Zugang zu den Konten der Bankkunden (zum Beispiel über APIs) unter Auflagen gestattet wird.
Der digitale Schlüssel
Das Problem ist nicht trivial: Wo neue Dienstleistungen entstehen und auf das Interesse von Kunden stossen, benötigen diese immer häufiger Bank- oder Versicherungsdaten unabhängig davon, bei welchem Institut ein Konto besteht oder eine Police liegt. Sei dies zum Beispiel für den automatischen Abgleich von Bankkonten mit Buchhaltungsprogrammen oder eine Zahlung via Mobile-Payment- Lösung. All diese Situationen setzen eine Schnittstelle voraus, eine Art Stecker mit Steckdose, welche die Daten sicher, zuverlässig und schnell überträgt.
Als Modus Operandi für diese Art digitaler Schnittstellen haben sich APIs durchgesetzt. Die Abkürzung steht für Application Programming Interface oder, auf Deutsch, Programmierschnittstelle. Beispiele sind Apple oder Google, die über APIs definieren, wie Apps von Drittherstellern mit den Betriebssystemen von iPhones oder unter Android kommunizieren müssen. In einer Welt, in der immer mehr Systeme miteinander «sprechen», seien APIs der «Schlüssel zu einer erfolgreichen digitalen Transformation», schreibt beispielsweise der «Business Insider». «APIs werden auch in Zukunft die entscheidende Rolle spielen bei der Kommunikation von verschiedenen digitalen Systemen», sagt Cornelius Dorn, Head Strategy & Business Development in der Geschäftseinheit Banking Services von SIX, «doch gilt es möglichst zu vermeiden, dass bei gleichen Themen jedes Finanzinstitut seine eigenen APIs baut.» Es drohe ein ähnliches Szenario wie bei der Steckdose – jedoch bereits innerhalb der Schweiz. Cornelius Dorn, der sich auch in der Arbeitsgruppe Open Banking der Schweizerischen Bankiervereinigung (SBVg) engagiert, warnt vor einem API-Dschungel, «das würde die Innovation in der Schweiz stark bremsen. Für kleine Unternehmen ist es unmöglich, die APIs von jeder Bank oder Versicherung zu integrieren».
Das Innovationsargument liegt dem promovierten Ingenieur besonders am Herzen. Er führt aus: Die vielen jungen FinTechs «lösen meist einzelne Probleme – das tun sie aber richtig gut, oft besser als traditionelle Finanzinstitute». Doch Endkundinnen und -kunden würden nur selten profitieren: Niemand lade sich 15 Apps auf das Smartphone, von denen jede eine einzige Dienstleistung beherrscht und die nicht integriert sind. Traditionelle Finanzinstitute ihrerseits hätten wegen der komplexen Geschäftsmodelle und der über Jahre gewachsenen komplexen Infrastruktur Schwierigkeiten, in hohem Tempo neue, externe Lösungen in ihr Angebot aufzunehmen.
Was tun? In den Anfangszeiten der Digitalisierung gab es viele Berührungsängste zwischen alteingesessenen Schweizer Finanzinstituten und den disruptiven FinTechs – keine erfolgversprechende Strategie wie beispielsweise die Medienbranche zeigt. Einige Verlagshäuser verwehrten sich den neuen Produkten und Kanälen und verpassten so den Anschluss. Doch die meisten Banken und Versicherungen legten ihre anfängliche Skepsis relativ schnell ab. Thomas Gottstein, Chef der Credit Suisse Schweiz, verkündete bereits 2016, dass die Bank das Prinzip der «Frenemies » anwende, bei dem aus Rivalen (enemies) Geschäftspartner (friends) werden: «Die jungen Wilden arbeiten mit uns, den traditionellen Instituten, zusammen.»
Die Uhr tickt
Doch wie weit geht die Zusammenarbeit zwischen der alten und der neuen Finanzwelt? Laufen die Finanzinstitute Gefahr, ihr Tafelsilber – die Kundenbeziehungen und -daten – zu verscherbeln oder wie in der EU unter PSD2 gezwungenermassen sogar zu verschenken? Die «Handelszeitung» schrieb kürzlich, in der europäischen Bankenwelt gehe ein Gespenst um, «das Gespenst des Open Bankings ». Die Banken bemühten sich darum, «auch nach der erzwungenen Öffnung den Kontakt zu ihren Endkunden nicht zu verlieren ». «Banken, die als First Mover beim Open Banking mitmachen, können viel gewinnen », sagt Nicolas Guillet, Projektleiter E-Business bei Abacus, dem Unternehmen hinter der gleichnamigen ERP-Gesamtlösung und Abaninja.ch, einem Cloud-basierten Fakturierungstool für KMU. José Fernández, zuständig für das Partnermanagement bei Klara.ch, einem Anbieter von digitalen Lösungen für sämtliche administrativen Belange, ergänzt: «Indem Banken sich aktiv im Ökosystem beteiligen, können sie kollaborativ neue Geschäftsmodelle entwickeln.»
«Die Anbindung der Dienstleistungen von Drittparteien entspricht dem Kundenwunsch nach integrierten Lösungen», bestätigt auch Herbert Scheidt, der Präsident der SBVg kürzlich in einem Interview. «Die SBVg sieht im Open Banking grosses Potenzial für den Finanzplatz Schweiz», lehnt aber «eine staatlich erzwungene, einseitige Öffnung von Zugriffsrechten für Dritte, wie es die PSD2 in der EU verlangt», ab.
Cornelius Dorn ist überzeugt, «dass die Uhr tickt» für den Schweizer Finanzplatz. «Werden wir nicht selbst aktiv und finden innovative Lösungen, droht unseren Finanzinstituten, von den grossen amerikanischen Technologiefirmen aus dem Markt gedrängt zu werden». In der Tat nähern sich Apple, Google und Co. immer mehr den Banken und Versicherungen an – oft mit Zahlungsverkehrslösungen als Einstieg. So hat Facebook erst kürzlich angekündigt, nächstes Jahr eine eigene globale Währung namens Libra herauszugeben. Über eine Bankenlizenz verfügt das kalifornische Social-Media-Unternehmen schon seit 2016.
Die Petrischale des Bankings
Um dem Schweizer Finanzplatz einen effizienten Einstieg ins Open Banking zu ermöglichen, hat SIX darum eine einheitliche Datenaustauschplattform entwickelt – ohne regulatorischen Zwang und entlang der Bedürfnisse von Kunden, Banken, TPPs und anderen möglichen Teilnehmern. «Die Plattform von SIX wird Massstäbe für effizientes Open Banking auf dem Schweizer Finanzplatz setzen», sagt Cornelius Dorn, «und allen Teilnehmern eine hohe Sicherheit garantieren.»
Die Plattform wird die verschiedenen Teilnehmer via standardisierte APIs verbinden, sodass diese neue, innovative sowie benutzerfreundliche Lösungen entwickeln und einfacher zum Kunden bringen können. «Sie soll auch eine Art Petrischale sein, wo Ideen und Geschäftsmodelle kultiviert werden», erklärt Cornelius Dorn. Es gebe auch andere Ansätze in der Schweiz, «doch die Plattform von SIX ist derzeit die einzige Lösung, die von einem zentralen Infrastrukturdienstleister angeboten wird. Zudem kommt sie ohne ‹Abkürzungen› wie Screen Scraping aus». Damit meint er das automatische Auslesen von Daten direkt ab Computerbildschirm, das einige Unternehmen notgedrungen betreiben, wenn ihnen keine Schnittstellen zur Verfügung stehen. Screen Scraping hat einen schlechten Ruf, es gilt als fehleranfällig und wird gerne von Hackern missbraucht.
Ein weiterer Vorteil der Plattform von SIX: «Sollten sich internationale Standards durchsetzen, könnten wir unsere Plattform an diese anpassen», so Cornelius Dorn. «Damit würden wir auch kleinen, hoch spezialisierten Schweizer Start-ups erleichtern, ihre Services international zu vertreiben.» Die «Handelszeitung» bezeichnete die Lösung von SIX, die zur Lancierung zunächst Unternehmenskunden zur Verfügung stehen wird, bereits im April als Meilenstein für das Open Banking in der Schweiz. Im Juli startete der Pilotbetrieb (siehe Box unten).
McKinsey & Company schreibt in einem grossen Report über Open Banking, dass Veränderungen selten angenehm seien, dass man den Kräften des Wandels aber nicht entrinnen könne. «Die Banken sind besser beraten, dem Trend voraus zu sein und ihn selbst zu prägen, als einen hoffnungslosen Kampf zu führen, um ihn zu verhindern.»
Open Banking für die Schweiz von SIX
SIX bringt Open Banking auf breiter Basis in die Schweiz. «Mit ihrer Plattform wird SIX zur Drehscheibe für den Datenaustausch im Banking», sagt Marco Menotti, Head Banking Services bei SIX. «Damit legen wir das Fundament für innovative Produkte unserer Plattformnutzer und stärken den Finanzplatz Schweiz.»
Der Pilotbetrieb mit Credit Suisse, UBS und den beiden Third Party Providers (TPPs) Abacus und Klara.ch begann im Juli 2019. SIX testet zunächst zwei Dienste. Mit dem Kontoinformationsdienst erhalten TPPs Zugriff auf Bankkontodaten, um diese mit der Buchhaltungssoftware von Unternehmen abgleichen zu können. Mit dem Zahlungsdienst können TPPs Zahlungen ihrer Unternehmenskunden automatisiert bei der entsprechenden Bank in Auftrag geben, wo die Kunden sie nur noch freigeben müssen. «Wir orientieren uns an den Markt- und Kundenbedürfnissen », sagt Marco Menotti, «und werden die Anwendungsfälle kontinuierlich ausbauen.» Voraussichtlich Anfang 2020 beginnt der reguläre Betrieb der Plattform.
Werden Sie Abonnent von RED und verpassen Sie keine Inhalte aus unserem preisgekrönten Unternehmensmagazin.
Jetzt abonnieren