Dr. Bernhard Lingens
Seit 2017 leitet Bernhard Lingens das Helvetia Innovation Lab, eine Kooperation der Universität St. Gallen (Institut für Technologiemanagement) und der Helvetia Versicherungen Schweiz. Mit seinem Team erforscht er das Phänomen der Business Ecosystems und arbeitet dabei mit Unternehmen aus verschiedenen Branchen zusammen. Bernhard Lingens hat einen Hintergrund in Maschinenbau sowie Betriebswirtschaft und promovierte an der Universität St. Gallen und am Imperial College London zu Innovation und Entrepreneurship. Bei der Unternehmensberatung Roland Berger wirkte er als Strategieberater.
Lisa Yerebakan
Als Junior Open Innovator bei SIX unterstützt Lisa Yerebakan seit 2018 interne Innovationsinitiativen und führt eigene Projekte mit externen Partnern durch. Nach Abschluss ihres Bachelorstudiums in Business Administration an der Universität St. Gallen macht sie dort jetzt ihren Masterabschluss in Business Innovation. Für ihre Masterarbeit über Business Ecosystems hat sie in ihrem Arbeitgeber SIX das ideale Studienobjekt gefunden, um die Theorie empirisch zu überprüfen. Vor ihrem Wechsel in die Geschäftseinheit Innovation & Digital von SIX war sie schon als Customer Advisor bei SIX Payment Services tätig.
Hier unter einer Kuppel im Botanischen Garten der Universität Zürich können wir das Ökosystem tropischer Trockengebiete erahnen. Der Begriff «Ökosystem» breitet sich aber gerade ausserhalb von Flora und Fauna so richtig aus.
Bernhard Lingens Tatsächlich hat der aus der Biologie stammende Begriff auch in der Wirtschaft Einzug gehalten. Es handelt sich um einen Trend. Laut einer Studie kommt zum Beispiel in Geschäftsberichten grosser US-Firmen der Begriff «Ökosystem» heute 13-mal häufiger vor als noch vor 10 Jahren. Das hat auch damit zu tun, dass sich Unternehmen gerne mit dem Begriff schmücken, um innovativ zu erscheinen. Praktischerweise ist er ja auch sehr vielseitig einsetzbar. Das Buzzword scheint für fast alles zu passen.
«Scheint» für fast alles zu passen? Das klingt, als würde der Begriff auch falsch eingesetzt.
Lisa Yerebakan Vielleicht wäre es gut, an dieser Stelle den Begriff zu definieren. Es gibt eben nicht das eine Ökosystem. Häufig verwenden wir den Begriff zum Beispiel synonym für eine Branche, ein Industry Ecosystem sozusagen. Und wo es vor allem um den Austausch von Information geht, können wir von einem Knowledge Ecosystem sprechen. Amazon und ähnliche Marktplätze dürfen als Platform Ecosystems bezeichnet werden. Dabei stehen die Netzwerkeffekte durch eine hohe Zahl an Partnern im Vordergrund. Diese Partner sind jederzeit austauschbar.
Anders in einem Business Ecosystem, in dem wenige Partner zusammenwirken, ihre individuellen Stärken einbringen und nur schwer austauschbar sind. Im Zusammenhang mit strategischem Management und Geschäftsmodellen ist also Business Ecosystem der relevante Begriff.
Lingens Ein wichtiger und richtiger Einwurf, der mir erlaubt, noch einmal auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Hinter dem Buzzword «Ökosystem» steht eine reale ökonomische Herausforderung als Treiber. Und Business Ecosystems, um den Begriff aufzunehmen, sind speziell für stagnierende oder wettbewerbsintensive Branchen eine valable Option geworden.
Yerebakan Hinzu kommt, dass die Digitalisierung Business Ecosystems begünstigt, weil sie die Transaktionskosten senkt. So werden auch standardisierte Schnittstellen, wie sie SIX mit ihrer Plattform für Open Banking bieten wird, zukünftig Kollaborations- und Innovationskosten von Start-ups, Banken und anderen Partnern reduzieren. Die Technologie macht die Koordination einfacher.
Lingens Das lässt sich auch wissenschaftlich belegen. Ab der Jahrtausendwende und mit der fortschreitenden Digitalisierung nahm der Gebrauch des Begriffs «Ökosystem» exponentiell zu. Neben der Technologie gibt es aber noch zwei weitere Faktoren, die den Trend befeuern.
Der erste betrifft den Markt. Neben dem Drang – oder Zwang – sich zu differenzieren, sind es die Konsumenten, die ein Umdenken einfordern. Sie wünschen sich immer häufiger auch für komplexe Abläufe wie einen Hauskauf eine User Experience wie sie sie zum Beispiel von einem Online-Reisebüro kennen.
Das führt direkt zum dritten Faktor: Unternehmen in traditionellen, technologiefernen Branchen – dazu zähle ich auch die Finanzbranche – haben die dafür nötigen Kenntnisse und Ressourcen gar nicht im Haus. Selbst wenn während eines Innovationsprozesses die Idee für einen entsprechenden Service gereift war, musste sie über kurz oder lang schubladisiert werden. Im Business Ecosystem geht die Schublade wieder auf.
Yerebakan Und das passiert ironischerweise nicht, weil sich so ein Unternehmen von seinen Kernkompetenzen entfernt, sondern weil es sich sogar besser darauf konzentrieren kann. Bei SDX, der digitalen Börse von SIX zum Beispiel, können wir unsere Position als regulierte Börse in die Waagschale werfen und gleichzeitig mit Partnern die Distributed- Ledger-Technologie ausloten.
Übrigens teile ich die Ansicht, dass die Finanzbranche technologisch gesehen Aufholbedarf hat – anders liesse sich die grosse Zahl an FinTech-Start-ups ja nicht erklären. Es kommt ihr aber zugute, dass sie eine Art natürliche Affinität zu Ökosystemen hat. Das Finanzwesen funktioniert von jeher nur vernetzt. Denken Sie nur einmal daran, welcher Prozess ablaufen muss, wenn ich am Geldautomaten von Bank A Geld abhebe, das sich auf meinem Konto bei Bank B befindet.
Lingens Guter Punkt. Das können wir auch bei der Schweizer Mobile Payment App TWINT sehen. Aus Sicht der reinen Lehre wäre dieses Netzwerk zu gross, um als Business Ecosystem noch funktionieren zu können. Aber weil die Partner – Schweizer Banken und SIX – schon vor TWINT miteinander vernetzt waren, klappt die Koordination untereinander trotzdem.
Wie gross darf denn ein Business Ecosystem sein?
Lingens So klein wie möglich, so gross wie nötig. Gerade in der Aufbauphase sind zu viele Partner ein Bremsklotz – und ein Kostenfaktor. Bei vier bis fünf Partnern sind es zwischen 200 und 300 Stellenprozente, die der Orchestrator des Ökosystems für die Koordination einrechnen muss.
Der Orchestrator?
Yerebakan Wir haben schon mehrfach von der Koordination zwischen den Partnern in einem Business Ecosystem gesprochen. Diese übernimmt der sogenannte Orchestrator als zentraler Partner. Die anderen Partner steuern Produkte oder Dienstleistungen zu einer gemeinsamen Value Proposition bei. Sie ist das wichtigste Element eines Business Ecosystems und steht am Anfang. Als Orchestrator muss ich mich fragen, was mir fehlt, um diese Value Proposition zu erfüllen. Sie steuert meine Partnersuche.
Auch Lieferanten bedienen Unternehmen mit fehlenden Elementen.
Yerebakan Aber das ist eine klassische Lieferkette. Bin ich als Unternehmen heute nicht mehr mit dem Lieferanten A zufrieden, tausche ich ihn gegen den Lieferanten B aus. Beide liefern in etwa die gleiche Ware. In einem Business Ecosystem ist es jedoch entscheidend, dass das, was die Partner entwickeln, nicht generisch ist. Jedes Element für sich sollte eine Innovation darstellen. Nur so kreieren Business Ecosystems Mehrwert und schöpfen ihr Wachstumspotenzial aus. Und Wachstum ist letztendlich die Motivation, ein Business Ecosystem zu gründen.
Lingens Die Organisationstheorie sagt uns, dass wir Transaktionskosten sparen, wenn wir im Haus produzieren oder Lieferketten einfach gestalten. Das heisst für Business Ecosystems, dass der generierte Mehrwert höher liegen muss als die zusätzlichen Transaktionskosten aufgrund des Koordinationsaufwands. Ob das funktioniert, hängt nicht zuletzt von der Zahlbereitschaft der Kunden ab. Darum bewähren sich Business Ecosystems nicht in allen Branchen. Die Nahrungsmittelbranche zum Beispiel dürfte es mit ihren tiefen Margen schwer haben, von der Lieferkette wegzukommen. Eine Tasse Kaffee bleibt nun mal eine Tasse Kaffee. Die Kunden werden nicht bereit sein, wesentlich mehr dafür zu bezahlen.
Aber jedes Unternehmen muss einen eigenen Weg finden, wie es Innovation betreiben will, um seine Value Proposition zu erfüllen. Das kann auch heissen, ein anderes Unternehmen zu akquirieren oder eine neue Abteilung aufzubauen statt eines Ökosystems.
SDX, die elektronische Rechnung eBill, TWINT oder die Plattform für Open Banking, SIX scheint jedenfalls Gefallen zu finden an der Idee des Business Ecosystems.
Yerebakan Das hat auch damit zu tun, dass SIX die idealen Voraussetzungen hat, um die Rolle als Orchestrator zu übernehmen. SIX nimmt als Infrastrukturbetreiberin für den Schweizer Finanzplatz eine neutrale Position ein. Über ihre Aktionäre, die Schweizer Banken, und über ihre bestehenden Kundenbeziehungen existiert bereits ein starkes Netzwerk. Dazu kommt das technische Know-how und die langjährige Erfahrung mit komplexen Ökosystemen wie dem Zahlungsverkehr.
In meiner Masterarbeit untersuche ich, über welche Kompetenzen ein Orchestrator verfügen muss, um erfolgreich ein Business Ecosystem aufzubauen. Mit der Geschäftseinheit Innovation & Digital ist SIX organisatorisch optimal aufgestellt, um verschiedene Partner sinnvoll zu verknüpfen. Dazu kommen das Engagement im F10 FinTech Incubator & Accelerator und SIX FinTech Ventures, unser Corporate Venture Capital Fund. Beide erlauben SIX einen sehr engen Kontakt und regen Austausch mit Start-ups über Branchengrenzen hinweg. Das kann nicht zuletzt in der Phase der Partnersuche von grossem Wert sein.
Lingens Diesen Wert kann man gar nicht genug hoch einschätzen. Wer in der Aufbauphase eines Business Ecosystems nicht auf ein solches Netzwerk zurückgreifen kann, wird wohl scheitern. Es sei denn, er hat die Möglichkeit, einen Co-Orchestrator zur Unterstützung beizuziehen.
Nach der Aufbauphase sind noch einmal andere Kompetenzen gefragt: Managementkompetenzen. Einerseits geht es darum, die Transaktionskosten zu senken, zum Beispiel indem man eine technische Plattform etabliert. Andererseits sollen die Partner zufriedengestellt werden, denn als Orchestrator ist man von ihnen abhängig.
Yerebakan Das ist nicht ganz einfach, wenn jeder Partner etwas anderes will. Es braucht ein Vertrauensverhältnis und auf Seiten des Orchestrators dementsprechend Mitarbeitende mit Sozialkompetenz, die integral denken können. Die Anforderungen an die Mitarbeitenden steigen zusätzlich, wenn der Orchestrator selbst auch technische Elemente beisteuert. Nicht jeder technisch versierte Spezialist kann auch gut koordinieren.
Lingens Manchmal muss man sich aber auch von Partnern trennen. Sicherlich immer dann, wenn die Value Proposition in Gefahr ist. Neue Partner hinzuzunehmen macht hingegen meist erst dann Sinn, wenn eine Plattform steht und diese über standardisierte Schnittstellen eingebunden werden können. Ab dann skaliert das Ökosystem, ohne zusätzliche Transaktionskosten zu generieren.
Yerebakan Was ich auch machen kann als Orchestrator, ist, die Value Proposition durch zusätzliche Services zu erweitern. Dann muss ich aber auch alle Partner wieder von Neuem von dieser überzeugen.
Ökosysteme in der Wirtschaft
Der Erste, der den Begriff «Ökosystem» von der Biologie auf die Wirtschaft übertragen hat, war 1993 James F. Moore in der «Harvard Business Review». In seinem Artikel «Predators and Prey: A New Ecology of Competition» beschreibt er, wie in einem Business Ecosystem verschiedene Unternehmen gemeinsam Fähigkeiten um eine Innovation herum entwickeln. Kooperativ und wettbewerbsfähig würden sie so Kundenbedürfnisse besser befriedigen können. Mit dem «Central Ecological Contributor» definiert James F. Moore auch schon die wichtige Rolle des Orchestrators, der die Zügel in der Hand halten muss.
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