Der Hype und die Kontroverse um künstliche Intelligenz (KI) sind enorm. KI werde entweder Krebs besiegen oder die gesamte Menschheit auslöschen. Sie werde entweder sämtliche unserer Produktivitätsprobleme lösen oder unsere Arbeitskraft überflüssig machen. Und was ist mit der Finanzbranche?
Wer nutzt bereits künstliche Intelligenz in der Finanzbranche?
In der Studie Future of Finance 2023/24 hat SIX aufgedeckt, dass nur 6 % der Finanzinstitute weltweit davon ausgehen, KI in den nächsten drei Jahren nicht in bedeutender Art und Weise für ihr Unternehmen einsetzen zu können. Dass dieses Denken in die Zukunft gerichtet ist oder nicht alle Teile der Wertschöpfungskette in der Finanzbranche gleich betroffen sind, zeigt ein Studienergebnis der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (European Securities and Markets Authority, ESMA) vom Februar 2023. In der Studie AI in EU Securities Markets fokussiert die ESMA auf den Nachhandel, das Post-Trading, und zeigt auf, dass zurzeit weder zentrale Gegenparteien noch Zentralverwahrer KI grossflächig nutzen.
Post-Trading und künstliche Intelligenz
Aber warum ist das so? Ist Post-Trading ein Spezialfall? Vielleicht liegt die Antwort darin, dass das Post-Trading – noch mehr als andere Teile der Branche – auf absolut vertrauenswürdige Daten angewiesen ist. Eine regulierte Infrastruktur kann ihr Geschäft nicht auf der Grundlage von Informationen aus unbekannten oder nicht fachlich abgestützten Quellen führen. Die Auswirkungen auf das Risikomanagement und den Anlegerschutz wären enorm. Es besteht das Risiko, mithilfe von Technologie bestehende Fehler und Mängel zu vervielfältigen.
Hürden für KI im Post-Trading
Dennoch gibt es auch im Post-Trading einen Platz für KI, und analog anderer technischen Entwicklungen in der Vergangenheit wie Cloud, Blockchain oder Data Science, muss einem potenziellen Einsatz und Erfolg ein tiefes Verständnis vorausgehen. Insbesondere vier Hürden müssen dabei übersprungen werden:
1. Verteilte Daten
Die Daten, die es braucht, um eine KI zu trainieren und letztlich zu nutzen, sind leider häufig über verschiedene Systeme verteilt, liegen in verschiedenen Formaten vor oder sind unzugänglich. Der Versuch, diese Informationen zum Beispiel zur Voraussage von Ausfällen beim Settlement von Trades zu verwenden, ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Daten zuvor nicht strukturiert und normalisiert wurden.
Erst, wenn das geschehen ist, können Finanzinstitute beginnen, darüber nachzudenken, wo der tatsächliche Nutzen von KI für sie liegt. Im Zusammenhang mit Ausfällen beim Settlement von Trades kämen dabei zum Beispiel historische Daten infrage, aber auch Daten zur Volatilität des Aktienkurses, zum Handelsvolumen und Zeitpunkt sowie zu den involvierten Gegenparteien usw.
2. Falscher Fokus
Wenn es darum geht, zu bestimmen, worauf der Fokus gelegt werden soll auf der Suche nach möglichen KI-Anwendungen, gibt es eine Tendenz zu Transaktionen mit hohen Volumen. Aufgrund der Charakteristik von KI wäre jedoch der Ansatz «Kleinvieh macht auch Mist» unter Umständen vielversprechender.
Dazu gehört auch zu identifizieren, was bereits gut funktioniert. KI kann Emittenten, Gegenparteien, Handelsplätzen oder Clearing-Häusern helfen, ihre Anwendungen noch besser zu machen. Minimale Optimierungen bei einem Abwicklungsschritt, dafür in tausendfacher Ausführung, bergen ein grosses Wachstumspotenzial.
3. Fehlende Datenstrategie
Unabhängig von der Branche oder dem Unternehmen erfordert die KI-Anwendung eine Datenstrategie. Das bedeutet nicht nur, die Daten zu identifizieren und zugänglich zu machen, sondern auch deren Ursprung, Besitzverhältnisse, Governance sowie deren Zugriffsrechte zu verstehen. Das ist gleichbedeutend mit einem Lernprozess für das ganze Unternehmen.
Alle, vom Verwaltungsrat bis zur Verwaltung, müssen sich der Wichtigkeit von Daten bewusst werden und sich engagieren. Um mit dem Widerstand gegenüber neuen, allenfalls experimentellen Datenmodellen und -prozessen umgehen zu können, sind eventuell organisatorische Veränderungen oder das Umschichten von Ressourcen nötig. Auf der Ebene der Mitarbeitenden braucht es Weiterbildungen, um die Fähigkeiten zu erlernen, die einen effizienten Umgang mit KI ermöglichen. Dabei ist es wichtig, Möglichkeiten zu bieten, Tests in einer sicheren Umgebung durchzuführen.
4. Technikgläubigkeit
Es muss nicht nur sichergestellt sein, dass die richtigen Daten in KI-Modelle einfliessen. Es braucht auch Expertinnen und Experten, die geflissentlich prüfen, was die KI liefert. Der gesunde Menschenverstand, den selbstredend nur ein Mensch haben kann, wird zu einem zentralen Gut.
KI: Die Maschine ist nicht genug
Es gilt auch abzuwägen, welche Rolle Transparenz und Ethik spielen sollen, um Voreingenommenheit, Ausgrenzung usw. vermeiden zu können. Der Maschine allein zu glauben wird nicht reichen. Finanzinstitute, nicht zuletzt die, die im Post-Trading zu Hause sind, nehmen sich zu Recht Zeit, mögliche KI-Anwendungen in Ruhe zu prüfen.
Gemäss der Studie Future of Finance 2023/24 sind sich die Führungskräfte der Finanzbranche im Unklaren über die potenziellen Folgen, die die Verkürzung des Settlement-Zyklus für US-Wertpapiere auf T+1 mit sich bringen wird. Während 47 % der Meinung sind, dass die Umstellung Effizienzgewinne ermöglichen könnte, glauben viele auch, dass es für global tätige Finanzinstitute zu einer grösseren betrieblichen Komplexität führen wird (45 %). Beide Positionen bergen das Potenzial, zum Wegbereiter von künstlicher Intelligenz (KI) im Post-Trading werden zu können.
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